Laudatio 2016

Laudatio auf die Preisträgerinnen 2016

von Dr. Luise F. Pusch am 18.11.2016

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde der Stiftung „Aufmüpfige Frauen“

Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen, heute die Laudatio auf die beiden diesjährigen Preisträgerinnen der Stiftung „Aufmüpfige Frauen“, Rosemarie Ring und Anne Wizorek, zu halten, und ich danke der Stiftung herzlich, dass sie mich dazu eingeladen hat.

Heute vor 10 Tagen haben US-AmerikanerInnen Donald Trump zum Präsidenten gewählt, einen erklärten Frauenfeind und Frauengrapscher, Rassisten, notorischen Lügner und Betrüger. Zur Wahl stand neben Trump die bestqualifizierte Person, die sich je für das Amt beworben hat. Hillary Clinton gewann zwar mit rund zwei Millionen Stimmen die Popular Vote, aber nicht das Electoral College, deutsch gern das „Wahlmännergremium“ genannt, dabei sind sowohl Frauen als Männer „electors“. Es wurde erwartet, dass Frauen mehrheitlich für Hillary stimmen und damit dem Grapscher eine Lehre erteilen würden. Leider kam es nicht so. Von den weißen Frauen stimmten laut Exit Polls 42 Prozent für Trump, von den weißen Frauen ohne Collegeausbildung waren es sogar 53 Prozent.

Das schmerzt tief. Wann immer ich in deutschen Landen feministisch unterwegs bin, beklagen sich die Frauen über die „anderen Frauen, die uns in den Rücken fallen“. Dies ist wieder mal so ein Fall, wo uns die „anderen Frauen in den Rücken gefallen sind“, und wohl der schrecklichste Fall von allen.

Was sage ich gewöhnlich zu dieser Klage? „Liebe Frauen – uns alle, Frauen wie Männer, erzieht unsere Umgebung und unsere Kultur zur Frauenfeindlichkeit. In der Zeit, die wir Feministinnen brauchen, um gegen massiven Widerstand ein Gramm Feminismus zu produzieren, hat das herrschende Patriarchat schon wieder tonnenweise patriarchale Ideologie produziert und verbreitet. Es ist also kein Wunder, dass so viele Frauen frauenfeindlich bzw. nicht imstande sind, ihren langfristigen Vorteil zu erkennen und dafür einzutreten und zu kämpfen. Frauen, die Frauen für zweitrangig halten, sind die Norm. Feministinnen dagegen sind ein Naturwunder. Lasst uns nicht klagen über die vielen frauenfeindlichen Frauen, die uns in den Rücken fallen und damit auch sich selbst schaden. Lasst uns lieber ein großes Fest feiern, wenn wir eine Feministin treffen. So ein Fest feiern wir heute. Wir sind zusammengekommen, um zwei große deutsche Feministinnen zu feiern, die Großartiges und Zukunftweisendes geleistet haben und weiter leisten.

Für den Feminismus braucht es einen langen Atem. Die verstorbene Feministin und Theologin Dorothee Sölle hat dazu einmal gesagt, der Feminismus sei wie eine mittelalterliche Kathedrale. Ja, schöne Metaphern gibt es für den Feminismus! Anne Wizorek hat ihm sogar mal zum Muttertag gratuliert. Aber zurück zur Kathedrale: Jahrhundertelang wurde daran gebaut – diejenigen, die den Bau begannen, wussten, dass sie die Vollendung nicht miterleben würden, aber das kümmerte sie nicht.

Der Feminismus mag wie eine Kathedrale sein, an der wir alle bauen und deren Vollendung wir herbeisehnen, aber wohl nicht erleben werden, aber zum Glück gibt es in diesem Jahrhundertunternehmen auch Teilprojekte, die fertiggeworden sind. Von solchen Projekten möchte ich Ihnen erzählen, von ganz erstaunlichen, originellen und wunderbaren Bauten, die Rosemarie Ring und Anne Wizorek im realen bzw. virtuellen Raum errichtet haben.

Rosemarie RingRosemarie Ring

Rosemarie Ring wurde 1954 in Zewen bei Trier (heute ein Stadtteil von Trier) geboren. Sie war in ihrer Familie die erste, die studierte. Von 1974 bis 1980 studierte sie in Dortmund mit dem Abschluss Diplom-Ingenieurin der Raumplanung. „Ich habe gute Erfahrungen im Studium gemacht“, sagt Rosemarie Ring, „weil es als Projektstudium organisiert war und Gruppenarbeit im Vordergrund stand.“ Eine Vorbereitung auf die berufliche Praxis gab es nicht. Man ging davon aus, dass die Studierenden später in der Verwaltung unterkommen würden. Aber Rosemarie Ring wollte nicht in die Verwaltung, die damals noch sehr starre Strukturen hatte. Der notwendige Umbruch kam im Zuge der Wiedervereinigung. Heute gilt „Neue Steuerung“ mit Arbeitsformen wie Teamarbeit, flachen Hierarchien und projektorientierter Arbeit. Das ist in der Stadtentwicklung und in der Planung deutlich zu spüren – und entspricht Rosemarie Ring, der Gruppenarbeit so viel bedeutet und gibt, viel eher.

Ihre erste befristete ABM-Arbeitsstelle hatte sie ab Herbst 1980 im Bereich Stadtentwicklung bei der Stadt Münster. Danach war sie arbeitslos und nutzte die Zeit zur Weiterbildung an der Ruhruniversität Bochum. Dieses Muster – ABM-Stelle, Arbeitslosigkeit, ABM-Stelle, usw. – ist typisch für das Arbeitsleben engagierter Feministinnen. Aber Rosemarie Ring machte das beste draus, und zwar folgendermaßen:

Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung in Berlin 1984 gründeten Planerinnen und Architektinnen den Verein „Feministische Organisation für Planerinnen und Architektinnen“, kurz FOPA. Sie engagierten sich für ein Frauenstadtteilzentrum in Kreuzberg. Diese Ideen haben Rosemarie Ring und Mitstreiterinnen in Dortmund weiter bearbeitet und schließlich eine Dortmunder Sektion von FOPA gegründet.

FOPA war viele Jahre der Ausgangspunkt weiterer Aktivitäten und von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die teils auch Rosemarie Rings Existenz sicherten: Z.B. konnte sie 1984 das erste Projekt zur Beteiligung von Frauen an der Stadterneuerung in Dortmund initiieren. Vier Jahre später, von 1988 bis 90, untersuchte sie den Anteil von Frauen in Stadterneuerungsprojekten und veröffentlichte diese Forschungsarbeit 1993 unter dem Titel „Frauen verändern ihre Städte“ im Dortmunder efef-Frauenverlag.

Rosemarie Ring initiierte 2001 gemeinsam mit einer Kollegin von FOPA ein großes Frauenwohnprojekt in der Dortmunder Nordstadt, das sie kontinuierlich begleitete und das im Jahr 2006 als „Beginenhof Dortmund“ bezugsfertig wurde. Der Beginenhof war und ist ihr eine Herzensangelegenheit; sie wohnt auch selbst dort.

Mit diesem Wohn- und Lebenskonzept verbindet sich die Idee der Wahlverwandtschaften als Zusammengehörigkeit ohne familiäre Abhängigkeit, Verantwortlichkeit füreinander ohne lebenslange Verpflichtung. Der Wunsch, sich vor Vereinsamung – nicht nur im Alter – zu schützen und dadurch so lange und aktiv wie möglich in der vertrauten Umgebung leben zu können, prägt die Grundidee des Zusammenlebens. Auch die Integration der unterschiedlichsten Lebenszusammenhänge ist Teil des Konzepts und wird aktiv gefördert: junge Frauen wohnen mit älteren, Migrantinnen mit Deutschen, Mütter mit Kinderlosen, Besserverdienende mit sozial Benachteiligten, Frauen ohne mit Frauen mit Behinderung, heterosexuell liebende mit lesbischen Frauen. Männer sind willkommen, aber nur als Gäste. Wohnen und Arbeiten sollen sich möglichst ebenfalls verbinden, daher gibt es auch eine Physiotherapiepraxis im Beginenhof.

Bis zu 31 Frauen (mit Kindern) wohnen weitgehend barrierefrei in den Miet-Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus. Nur fünf der Wohnungen sind für eine ortsübliche Miete zu haben. Das ist vielleicht das Bemerkenswerteste und Subversivste am Beginenhof Dortmund: Dass echte „Staatsknete“ dafür locker gemacht wird, dass Frauen – ungestört von Männern – zusammen in einer Wohnung oder zumindest in einer Hausgemeinschaft wohnen können.

Als ich mich auf der Webseite des Beginenhofs umsah und las, was für übermenschliche Anstrengungen notwendig waren, um das Projekt in Gang zu bringen, zu realisieren und bis heute in Gang zu halten, wurde mir schwindlig. Auch das Buch von Ruth Becker und Eveline Linke über Frauenwohnprojekte vermittelt einen tiefen Einblick in deren Risiken und Nebenwirkungen. Ein Scheitern wie es der Bremer Beginenhof erleben musste, ist nie auszuschließen, im Gegenteil. In einem ihrer Texte formuliert Rosemarie Ring diesbezüglich eine Erkenntnis, die mir lange nachging: „Planung ist nicht rational, Planung ist auf weite Strecken sehr irrational […]. Vorrangig ist organisatorisches Wissen, sich in Organisationen bewegen zu können, Leute zum Thema zusammen zu bringen, sie an einem Strang ziehen zu lassen, in eine Richtung zu bringen, Projekte durchzuführen. Regelrechtes Sachwissen ist eher im Hintergrund für mich.“

Allein für dieses revolutionäre, die Geschlechterhierarchie nachhaltig untergrabende Projekt, den Dortmunder Beginenhof, hat Rosemarie Ring den Preis der „Aufmüpfigen Frauen“ mehr als verdient, finde ich. Und dann hat sie auch noch all die anderen Frauenprojekte und -initiativen auf die Beine gestellt, von denen ich nur wenige aufzählen konnte. Und das alles in mehr oder weniger prekären Arbeitsbedingungen, sich von einer befristeten ABM-Maßnahme zur nächsten hangelnd, dazwischen immer wieder arbeitslos. Das verdient höchsten Respekt. Mit viel Mut und Kreativität hat Rosemarie Ring ein soziales Kunstwerk geschaffen, „das – ich zitiere die Zielsetzung der Stiftung „Aufmüpfige Frauen“ „vorbildlich für andere sein kann und unsere Umwelt humanisiert.“ Brava!

Anne WizorekAnne Wizorek

Anne Wizorek wurde 1981 in Rüdersdorf in Brandenburg geboren und lebt, wie sie sagt, im Internet und in Berlin. Sie studierte neuere deutsche Literatur und allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Skandinavistik an der Berliner Humboldt-Universität. Sie ist bundesweit gefragt als Digital Media Consultant und Speakerin und arbeitet erfolgreich, unerschrocken und mit Gusto als feministische Autorin und Bloggerin. Wenn ich mir ihre Tätigkeiten und ihr Tätigkeitsspektrum auf ihrer hochprofessionell und einladend gestalteten Website annewizorek.de ansehe, bekomme ich Angst um sie und fürchte, sie könnte bald einem feministischen Burnout erliegen, gegen den sie selbst doch so überzeugend warnt und schöne Ratschläge aufgeschrieben hat.

Anne Wizorek hat vor knapp vier Jahren, Ende Januar 2013, unter dem Hashtag #aufschrei, in ganz Deutschland und weit darüber hinaus eine Debatte zum Thema Alltagssexismus angestoßen.
Dazu schreibt sie in ihrem Buch Weil ein #Aufschrei nicht reicht: Für einen Feminismus von heute: „#aufschrei hat schonungslos offengelegt, dass Geschlechtergerechtigkeit in Deutschland keine Realität und „Wir sind doch schon viel weiter“ eine bloße Behauptung ist. Zehntausende Menschen sammelten unter #aufschrei ihre Erfahrungen mit Sexismus und sexualisierter Gewalt. […] Galt Sexismus zuvor […] als nicht (mehr) diskussionswürdig, so brachte #aufschrei ein notwendiges Update. Ein wichtiger Schritt: Ein Problem muss schließlich erst als solches sichtbar sein, um darüber reden zu können. Nur so kann auch dessen Lösung angegangen werden.“ (S. 208)

Natürlich galt Sexismus für Feministinnen seit jeher als diskussionswürdig, wir tun praktisch seit Jahrzehnten nichts anderes, als uns damit herumzuschlagen. Aber Anne Wizorek und ihren Netzfreundinnen ist es gelungen, die Debatte in die ganz breite Öffentlichkeit zurückzutragen, wo sie hingehört, aus der sie aber zwischenzeitlich durch patriarchale Hasspropaganda verdrängt worden war. So wurde das Problem wieder weithin sichtbar und kann nun nicht mehr ignoriert werden.

Mit dem #aufschrei wurde das erste Mal in Deutschland das politische Potenzial von Twitter greifbar – und das mit einem feministischen Thema, dem feministischen Thema par excellence: Gewalt gegen Frauen. So traurig der Anlass immer wieder ist – es war eine Sternstunde des Feminismus in Deutschland.
Im Juni 2013 würdigte der deutsche Journalistinnenbund Anne Wizorek für ihre Initiative. Außerdem bekam #aufschrei – als erster Hashtag – den Grimme Online Award 2013.

Im September 2014 erschien Anne Wizoreks Buch “Weil ein #aufschrei nicht reicht”. Ende September 2014 war ich in Gießen, auf Einladung des autonomen Queer-Feministischen Frauenreferats der Uni. Die Organisatorin las gerade in dem Aufschrei-Buch, wie sie es nannte, und war begeistert. Rolf Löchel, m.W. unter den Kennerinnen und Kennern der deutschsprachigen feministischen und Frauenliteratur der belesenste von allen, würdigt das Buch wie folgt:

Wizorek [räumt] mit Mythen und Missverständnissen in Sachen Feminismus auf, fordert die Geschlechterquote, macht sich für sexuelle Selbstbestimmung stark, kämpft gegen das tyrannische Schönheitsdiktat und sein unerreichbares ‘Ideal’, geißelt „sexualisierte Gewalt“ und klagt „Akzeptanz statt Toleranz“ ein. Außerdem klärt sie darüber auf, dass Sexismus […] ein „strukturelles Problem“ ist. […]

Wizorek trägt das feministische Anliegen überzeugend vor und kleidet dabei selbst die höhere Theorie in eine unterhaltsame Sprache, sie informiert über die Geschichte der Frauenbewegung, rekapituliert die #aufschrei-kampagne, wartet mit Handlungsanweisungen und Tipps auf und sie stellt […] etliche aktuelle feministische Kampagnen und Projekte vor […]. Es gibt also reichlich gute Gründe für werdende FeministInnen und ihre Verbündeten in spe, sich das Buch anzuschaffen.

Die Medien reagierten prompt auf den #aufschrei und luden Anne Wizorek zu Talkrunden ein, z.B. Günter Jauch und „hart aber fair“. Eine dieser Diskussionsrunden habe ich damals zufällig beim Rumzappen erwischt und blieb fasziniert hängen. Anne Wizorek schlug sich glänzend und souverän und sagte all die richtigen Sachen am richtigen Platz im richtigen Ton. Dafür bekam sie später natürlich antifeministische Hasskommentare noch und noch – aber ich dachte: Wow, diese smarte, coole Kämpferin für den Feminismus ist genau das, was wir brauchen. Brava!

Nach den Medien reagierte auch die Politik auf das feministische Ausnahmetalent und berief sie im Mai 2015 in die Sachverständigenkommission für den 2. Gleichstellungsbericht der Bundesregierung.

Ebenfalls im Jahre 2015 berief die Antidiskriminierungsstelle des Bundes Anne Wizorek in den Kreis der BotschafterInnen des Themenjahres gegen Geschlechterdiskriminierung.

Genau wie Rosemarie Ring mit dem Beginenhof hat auch Anne Wizorek ein Projekt, das ihr am Herzen liegt. Es ist der Gemeinschaftsblog Kleinerdrei. Der Name Kleinerdrei „steht im Netzjargon für ein Herz, eben ein <3. Für uns repräsentiert es damit das, worüber wir schreiben, nämlich: Was uns am Herzen liegt – und das reicht von Politik bis Popkultur“. Die regelmäßige Lektüre von Kleinerdrei kann ich allen zur Stärkung des feministischen Immunsystems nur – – ans Herz legen, was sonst.

© 18.11.2016 Luise F. Pusch

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