2010 Laudatio Mechtild Jansen

Laudatio Mechtild Jansen
Hessische Landeszentrale für Politische Bildung

24. September 2010 mit 250 geladenen Gästen in der Bürgerhalle des Rathauses der Stadt Dortmund

Es ist für mich eine große Freude, Ihnen Shaima Ghafury vorzustellen.

Mit Shaima ehren wir nicht nur eine mutige Frau, wir ehren eine Brückenbauerin; engagiert über Grenzen hinweg, nicht nur in und für Afghanistan, sondern auch hier in Deutschland, wo sie sich tatkräftig für Flüchtlinge und Migrantinnen einsetzt.

Als 1992 die Mudschaheddin die Macht in Afghanistan übernahmen, musste Shaima Ghafury mit ihrem Mann und drei kleinen Kindern fliehen. 2000 kam sie ins Team der Landesarbeitsgemeinschaft, die Seminare für Frauen aus sozialen Brennpunkten durchführt, dort lernte ich sie kennen. An diesen Seminaren nehmen viele Migrantinnen teil, und Shaima bereicherte unser Team mit Ihren Erfahrungen und ihrem Wissen und schloss auch uns dadurch Welten und andere Zugänge auf, die wir sonst so nicht kennen gelernt hätten.

Aber wer ist Shaima Ghafury?

1958 wurde sie in Kabul geboren, legte bereits mit 16 ihr Abitur ab und studierte in Bulgarien Agraringenieurstechnik, das sie 1981 als beste Studentin Bulgariens abschloss.

Bis zu ihrer Flucht 1992 arbeitete sie dann als Dozentin an der Universität Kabul, bekam 3 Töchter; die Jüngste war 1 Jahr alt, als sie fliehen mussten.

Sie verließ das Land, das sie liebte; versteckte sich während der Flucht bis Tadschikistan unter einer Burka, die sie da erstmalig und einmalig trug und in deren Gitter sich ihre Brille verfing. So wurde sie auf engstem Raum konfrontiert mit Symbolen für zwei widersprüchliche Welten: Die Brille als Zeichen für Durchblick und Bildung verfing sich am Gitter der Burka, die die Sicht versperrte und für Analphabetismus und Rückschritt steht. Mit diesen sich widersprechenden Erfahrungen verließ sie Ihr Land und gelangte über die Grüne Grenze schließlich nach München.

Sie verließ ihre Heimat, ihre Verwandten und vieles, was ihr lieb und teuer war und fühlte sich plötzlich von ihren Wurzeln getrennt. Sie war gezwungen, ihr Haus, in dem sie aufgewachsen war, wo sie glückliche und unglückliche Zeiten erlebt hatte, zu verlassen. In nur einem Augenblick musste sie sich von allem trennen, was ihr Leben bis dahin ausgemacht hatte.

1992 kam sie mit nur einem deutschen Wort im Gepäck hier an und das hieß »Bahnhof«. In Kombination mit Englisch ermöglichte ihr dies einige Verwandte zu finden. Das Wort Bahnhof hat gerade für Flüchtlinge oft eine hohe Bedeutung, es symbolisiert »Weiter kommen«, aber auch die Sehnsucht nach dem Ort, den man verlassen hat.

Shaima Ghafury kam nach Marburg und fing sofort an Deutsch zu lernen, mittlerweile ihre 6. Sprache. Sie hatte das brennende Verlangen, sich zu orientieren und zu engagieren, umso das neue Land kennen zu lernen. Sie suchte die Frauenbeauftragte Christa Winter auf. Diese erzählte mir, wie Shaima sie aufsuchte und informiert werden wollte, was eine Frauenbeauftragte macht, was es für Frauenarbeit vor Ort gab, und vor allem wie und wo sie sich einklinken könne.

Dieser Tatendrang und Mut nach der Flucht ist bemerkenswert, wusste sie doch, dass in ihrer Heimat ein Bürgerkrieg ausgebrochen war, der viele Menschen, auch Freunde das Leben kostete. Sie suchte nach Wegen aus der Mut- und Perspektivlosigkeit, die viele Flüchtlinge gefangen hielt, und es kam öfter vor, dass Verwandte und Bekannte ihr rieten, ihr Diplom wegzuwerfen, weil dies in Deutschland keine Bedeutung mehr habe. Eine Frau fragte sie: »Worin liegt der Unterschied, dass du dein ganzes Leben gelernt hast und ich nicht? Wir erhalten beide die gleiche Sozialhilfe und deine Bildung wird dir hier nicht weiterhelfen« .

Für Shaima Ghafury war diese Beurteilung bitter, und sie stellte sich mehrfach die Frage: »Ist es wahr, das mit der Migration meine Persönlichkeit für immer erloschen ist? Habe ich fast 30 Jahre umsonst gelernt; werden meine Erfahrungen niemand etwas bedeuten, bin ich für immer eine Last für die anderen, habe ich keine Fähigkeiten, die für die Gesellschaft hier auch nützlich sein könnten?«

Dieser Satz stieß mir bitter auf und ich schäme mich, wie wir hier in Deutschland immer noch mit Talenten umgehen und so u.U. dazu beitragen, Menschen zu zerstören.

Aber Shaima Ghafury gab nicht auf. Nach 2 Monaten konnte sie erste Gespräche auf Deutsch führen. Über ihre Kinder lernte sie andere Eltern kennen, von denen sie geschätzt und unterstützt wurde. Das Leid in Afghanistan erlebte sie schlimmer als die eigene Situation, was sie und ihren Mann dazu motivierte, sich für Afghanistan politisch und sozial zu engagieren.

Ihnen war die nationale Einheit des Landes wichtig und sie lehnten die Aufsplitterung des Landes in ethnisch homogene Gebiete ab. Sie hatte Angst vor dem Hass, der dadurch oft entfacht wurde. Ihr Mann und sie gehören ebenfalls verschiedenen Ethnien an; von beiden wurde das allerdings nicht als etwas Trennendes, sondern als Bereicherung aufgefasst.

Sie suchten nach Wegen, Hilfe zu leisten. 1993 war sie Mitbegründerin des Vereins der nationalen Einheit und des Fortschritts Afghanistan. 1994 gründeten sie »Die Initiative afghanisches Handwerk«. Dieser unterstützt in Pakistan Flüchtlinge, die vereinzelt und nicht in Lagern wohnten und deshalb durch etablierte Hilfe- und Spendenraster fielen. Sie überwiesen nicht einfach Geld, sondern organisierten eine Nähwerkstatt, in der die Frauen afghanische Kleidung nähen und bestickten konnten. Diese wurden dann in Deutschland mit Hilfe der Weltläden verkauft.

Es war Shaima Ghafury wichtig keine Almosen, sondern Hilfe zur Selbsthilfe zu geben und so die Frauen zu ermutigen, an sich selber zu glauben, Geld für Ihren Lebensunterhalt zu verdienen und sie so zu stärken. Das Prinzip der Selbsthilfe, war für sie das Naheliegenste, das Selbstverständliche und eine Maxime, die sie damals auch schon in Kabul bei Kleinbauern auf dem Lande als Agraringenieurin angewandt hatte.

Weil Shaima Ghafury die Möglichkeit eines Bildungszuganges für Kinder, insbesondere auch für Mädchen wichtig war, initiierte sie 1996 das Projekt »Schulpatenschaften«, das den Schulbesuch von Kindern organisierte. Ethnische Zugehörigkeit und Religion spielten hier keine Rolle, alle sollten Bildung und Unterricht erhalten. Eine Schule wurden in Islamabad aufgebaut und weitere unterstützt.

1999­2001 unter dem Taliban-Regime gründeten sie in der Nähe von Kabul eine Schule für Mädchen im Untergrund. Diese Mädchen wurden dort 3 Jahre unterrichtet und konnten dann ­ unter der Regierung Karzai ­ in die 6. und 7. Klasse aufgenommen werden. Hier zeigt sich, wie lernbegierig diese Mädchen waren, da sie in 3 Jahren das Pensum von 6 bis 7 Jahren schafften.

Das Lernen für Mädchen und Frauen wichtig war und ist, hat Shaima in ihrer eigenen Vita erlebt. Ihr Vater war Beamter, ihre Mutter Analphabetin, der aber die Bildung der 7 Kinder ­ Töchter wie Söhne ­ sehr wichtig war. Shaima wusste, zur Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben ist Bildung unverzichtbar, und es ist oft auch das Einzige, was man auch auf der Flucht mitnehmen kann.

Seit 2008 baut der Verein, vor allem mit Hilfe ihres Mannes Noor Mohammad, der dafür oft vor Ort ist, in der Provinz Wardak ist, mehrere Home-Schools auf; Schulen in Privathäusern, die aber in die Dorfgemeinschaft integriert und von ihr akzeptiert sind. Denn trotz gesetzlicher Verankerung können Mädchen auch heute oft ­ besonders auf dem Lande ­ nicht zu Schule gehen und öffentliche Mädchenschulen sind mehrfach von den Taliban angegriffen geworden. Das Konzept der Home-Schools versucht dem entgegen zu wirken durch Einbeziehung des gesamten Dorfes, um so den Schulbesuch der Mädchen nicht zu gefährden. Das Projekt verdeutlicht, wie wichtig das Prinzip der Basisarbeit ist, und wie sehr ihr die Bildung von Mädchen am Herzen liegt.

Woher Shaima die Kraft nimmt, ist mir manchmal schleierhaft. Ihr Engagement und das des Vereins richtet sich nicht nur auf Afghanistan, sondern ihr Ziel ist auch darüber hinaus, afghanischen Flüchtlingen in Marburg zu unterstützen, durch Sprachkurse und interkulturelle Frauenarbeit.

Shaima Ghafury sitzt zwischen den Stühlen, ist gleichzeitig doch Brückenbauerin. Das ist sicherlich nicht immer einfach, aber wer zwischen den Stühlen sitzt, der sieht auch mehr, nämlich das, was darunter liegt.

Teilhabe und Partizipation, sich einmischen ­ auch in Deutschland, in Marburg ­ sind ihr besonders wichtig. Sie will die Stadt, in der sie lebt, mitgestalten. Sie hat nicht nur die Situation der Frauen in Afghanistan und Pakistan sichtbar gemacht ­ durch Seminare und Vorträge. Ihr Anliegen war und ist die Lebenssituation der Frauen, besonders der Migrantinnen zu verbessern. Darum hat sie in verschiedenen Kommissionen der Stadt mitgearbeitet. Sie ist für die Stadt Marburg weiterhin eine wichtige Informationsquelle.

Für das Frauenschwimmen hat sie sich stark gemacht: Sie ist immer auch als Kulturübersetzerin tätig, etwa als es um die Planung der neuen Moschee in Marburg ging. Jetzt arbeitet sie in der »AG Gleichberechtigung« des »Runden Tisches Integration« mit.

An Empfehlungen für Lehrkräfte, Eltern und SchülerInnen zu brisanten Themen wie Klassenfahrten, Sexualkunde-, Sport und Schwimmunterricht hat sie mitgearbeitet. Auch das Positionspapier »Zwangsheirat und Morde im Namen der Ehre« hat sie entscheidend mit beeinflußt. Marburg kann auf ihre Erfahrungen, ihre Empathie, ihre Kommunikations- und Konfliktlösungsfähigkeiten nicht verzichten.

Aber kehren wir zurück, was macht Shaima eigentlich beruflich bei ihren Fähigkeiten, ihrem Potenzial? Wie hat Deutschland diese angenommen?

1996 trat sie eine ABM-Stelle als Hausmeisterin im Frauenhaus in Marburg an. Auf verdutzte Nachfragen von Familie und Freunden sagte sie: »Ich will arbeiten und deutsche Institutionen kenne lernen«. Hätte sie in Kabul bleiben können, sie wäre heute Professorin. Gott sei Dank sahen die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses sehr schnell, welchen Fang sie gemacht hatten und wie wertvoll Shaima für die Arbeit im Frauenhaus war – mit ihrem Einfühlungsvermögen, der interkulturellen Kompetenz und ihrer Mehrsprachigkeit. Sie sorgten dafür, dass sie angemessene Verantwortungsbereiche bekam. Von 1999­2003 war sie zuständig für MigrantInnenarbeit bei der Bürgerinitiative für Soziale Fragen (BSF) am Richtsberg, einem sozialen Brennpunkt in Marburg. Sie hat eine Ausbildung zur Schuldnerberaterin absolviert und seit 2003 ist sie Sozial- und Schuldnerberaterin bei der BSF und der Integrationsarbeit der Stadt Marburg sehr verpflichtet. Bei diesen Tätigkeiten kommt ihren Gegenüber nicht nur ihr interkulturelles Wissen, sondern auch ihre vielfältigen Sprachkenntnisse zu Gute.

Was Shaima aber als aufmüpfige Frau auszeichnet, ist ihre Zähigkeit, ihre Fähigkeit gegen den Strom zu schwimmen und nichts als gegeben hin zunehmen. Sie ist eine unermüdliche Kämpferin für die Frauen und Kinder, für bessere Lebensverhältnisse und für Chancengleichheit. Dass sie nicht aufgibt, hat sie ihr ganzes Leben hindurch bewiesen und auch, dass sie sich nicht einschüchtern lässt. Für Afghanistan ist ihr Frieden wichtig. Soziale Gerechtigkeit, Toleranz und Ehrlichkeit sind für sie unverzichtbar. Sie hat die Deutsche Staatsbürgerschaft, ihre 3 Töchter habe hier Abitur gemacht und studieren, ihr in Marburg geborener Sohn geht noch zur Schule. Das Gefühl zurückgehen zu wollen, ist ein Stück weit bei ihr geblieben.

Wir würden viel verlieren, nicht nur eine »Vorzeige Migrantin« mit gelungener Integrationsvita und perfekten Deutschkenntnissen, sondern wir würden eine Frau vermissen, von der wir viel gelernt haben und die wir sehr schätzen ­ Afghanistan würde vielleicht gewinnen. Als Brückenbauerin und Mittlerin zwischen den Welten wollen wir sie gerne behalten.

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