2008 Rede Prof. Dr. Sigrid Metz-Göckel

Rede Prof. Dr. Sigrid Metz-Göckel
Stifterin

14. November 2008 mit 180 geladenen Gästen in der Bürgerhalle des Rathauses der Stadt Dortmund

Warum zeichnet die Dortmunder Stiftung „Aufmüpfige Frauen“ Frau Dr. Sławomira Walczewska aus?

Vier Gründe gibt es, Frau Walczewska den Preis zu verleihen:

Weil sie eine aufmüpfige Frau ist. Aufmüpfig muss eine selbständige Philosophin und Frauenaktivisten sein, denn schließlich will sie die Gesellschaft in ihrem Sinne mitgestalten. Nur wer quer denkt, kann die Richtung ändern.
Weil sie eine Frau aus Krakau ist, eine polnische Frau, die 1960 geboren ist.
Weil die Preisverleihung hier im Ruhrgebiet stattfindet, das eine lange Geschichte des Zusammenlebens mit Menschen aus Polen hat.
Weil ich als Stifterin eine biografische Verbindung zu Polen habe und weil wie mir Dr. Johannes Hoffman von der Forschungsstelle Osteuropa an der Dortmunder Universität in einem Nebensatz einmal sagte: Es sind die biografischen Motive, die am tragfähigsten sind, wenn sich jemand im Ruhrgebiet für Polen interessiert.
Polen ist auch Teil der deutschen Geschichte.

Prof. Dr. Sigrid Metz-GöckelAls ich ein kleines Mädchen war, habe ich in der unmittelbaren Nachkriegszeit, ich glaube in der 3. Klasse der polnischen Volksschule, die ich damals in dem kleinen Dorf Pludry in der Nähe von Tschenstochau besuchte, ein anderes Weltbild kennen gelernt als später 1950 in Westdeutschland und auch ein anderes Polen als im größeren Umkreis meiner Familie.

In meiner Schulbank sitzend hörte ich aufmerksam zu, wie uns die junge selbstbewusste polnische Lehrerin Petruszka vom Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besatzer und von den Vernichtungslagern erzählte. Ich glaube, kein Kind in West-Deutschland hat zu dieser Zeit in diesem Alter davon erzählt bekommen.

Als Kind einer deutschen Familie fragte ich mich damals:

Das waren doch meine Onkels und unser Vater, die alle im Krieg waren. Zu wem gehöre ich eigentlich? Auf welche Seite soll ich mich schlagen?

Ich erinnere mich sehr genau an die Gedanken und Gefühle, die in mir rumorten und wie ich bei mir entschied, dass es nicht gut war, was Deutsche damals taten. Und dieses Wissen hat mich mein Leben lang begleitet: zu Ausstellungen über den Warschauer Aufstand und das Warschauer Ghetto, zum Auschwitz-Prozess, der in den 60er Jahren in Frankfurt stattfand und zur Holocaust-Literatur, die in meiner Schulzeit und später erschien.

Die polnischen Sprachkenntnisse meiner Kindheit sind verloren gegangen, aber seit langem wusste ich, dass ich mein letztes Forschungsfreisemester in Polen verbringen würde. Ich entschied mich für Krakau, wo ich im Winter 2003/4 Sławka Walczewska im Frauenzentrum am Platz Stepańska, später in der Ulica Stepańska kennen lernte, beide Orte befinden sich Mitten im Herzen von Krakau. Weil dort die Mieten zu teuer wurden, siedelte das Frauenzentrum um in den alten jüdischen Stadtteil Kazimierz, wo es jetzt in einem sehr renovierungsbedürftigen alten Bürgerhaus in der Krakowska-Straße 19 untergebracht ist.

Dessen Eigentümer und seine Nachkommen halten sich an einem unbekannten Ort auf, so heißt es offiziell. Es ist bis jetzt ein Niemands-Haus.

In Krakau war ich in diesem Winter zu Gast bei einem älteren Wissenschaftler-Ehepaar. Ich empfand die Einladung als Ehre und unser Gespräch in einer Mischung aus Französisch und meinem kümmerlichen Polnisch führte uns auch in die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte. Ich ahnte mehr, als dass ich es verstand, dass etwas Schreckliches berichtet wurde, und ich es bei dem älteren Herrn mit dem Nachkommen eines Überlebenden zu tun hatte. Das Ehepaar empfahl mir eine Dokumentation zur Sonderaktion Krakau, die auf Deutsch erschienen war. So erfuhr ich, die ich Jahrzehnte meines Lebens in der Universität verbracht und immer auch an Universitätsgeschichte interessiert war, zum ersten Mal von der Sonderaktion Krakau, wofür es kein polnisches Wort gibt.

Noch 1939, gleich nach dem Einmarsch des Deutschen Militärs und des Errichtung des Hauptquartiers des Gouverneurs Frank im Schloss Wawel hatte der für die Kulturpolitik zuständige Nazi-Offizier Herr Müller den Rektor der Jagiellonen-Universität aufgefordert, die Kollegen der Universität und der Hütten- und Bergbau-Akademie zu versammeln, da er ihnen die neue Situation erläutern wollte. Es kamen 270 Professoren in die alte Aula des Collegium Novum. Die Gestapo war aber bereits im Gebäude postiert und alle wurden in ein KZ abgeführt und alle Universitäten in Polen bis zur Befreiung geschlossen. (60 der Professoren sind bald gestorben, andere kamen durch heftige Bemühungen der Familien und vor allem des serbischen Nobelpreisträgers Ivo Andric, der damals im diplomatischen Dienst tätig war, wieder frei, viele auch erst bei Kriegsende).

Eine kleine Plakette vor dem Hauptgebäude erinnert an dieses Ereignis, das in der europäischen Universitätsgeschichte meines Wissens einmalig und nur wenigen in Deutschland bekannt ist. Man stelle sich dies für die Universität Dortmund und diese Region vor.

Frau Walczewska hat im Wissen um diese Ereignisse deutsche Philosophen studiert, Edmund Husserl ins Polnische übersetzt und intellektuelle, menschliche und politische Beziehungen zu Deutschen aufgebaut. Sie repräsentiert eine Generation junger Polen, die keine unmittelbaren Erfahrungen mehr mit dem Nazi-Deutschland und der Herabwürdigung der Polen hat und Beziehungen international auf gleicher Augenhöhe unterhält.

Ich möchte mit einem positiven Erlebnis schließen. Meine Familie stammt aus Oberschlesien und ist im Januar 1945 vor der anrückenden Front auf die Flucht gegangen. Meine Großeltern väterlicherseits sind als Bauern mit dem ganzen Dorf in Richtung Tschechei getreckt. Nach der Kapitulation kamen sie nach mehreren Wochen Fußmarsch ohne alles in ihr zerschossenes Dorf zurück. Das Wohnhaus meiner Großeltern war bis auf die Fensterscheiben unversehrt geblieben, so dass viele Menschen, deren Häuser zerstört waren, in ihm ein Dach über dem Kopf fanden, aber nichts zum Essen, da die Felder nicht bebaut und alle Tiere weg waren.

Meine Mutter war mit uns Kindern ebenfalls bei ihren Schwiegereltern für eine Weile untergekommen, gerade als die neuen polnischen Eigentümer auf den Hof kamen. Die Familie Kleszynski war ihrerseits aus ihrer Heimat im östlichen Teil Polens, der an die Sowjet Union abzutreten war, vertrieben und nach Westen geschickt worden. Sie kamen mit vier Kindern, einer Großmutter und aller Habe auf einem kleinen Pferdewagen auf den Bauernhof meiner Großeltern und zogen freundlicherweise ins kleine Auszugshaus ein. So lebten wir eine Weile nebeneinander und miteinander auf demselben Hof in der Nähe von Neiße.

Olga Tokarczuk hat als Tochter ihrerseits vertriebener Polen, die jetzt in den Westgebieten Polens leben, die von Deutschen verlassen wurden, die schwermütigen Gefühle beschrieben, mit denen sich die Polen ihre neue Zwangsheimat anzueignen versuchten. Taghaus Nachthaus ist ein (zerstückelter) Roman über Menschen einer Region mit einer doppelten Vertreibungsgeschichte.

Meine Erinnerungen aus dieser Zeit sind ohne Harm und Verletzungen. Wie sich die Erwachsenen damals fühlten, wage ich nicht zu sagen, sicher anders. Wir Kinder spielten ohne Arg miteinander und wurden allseits freundlich behandelt, selbst von der Roten Armee.

Unter uns war eher angesagt, das Wenige zu teilen, als Hass und Streit auszutragen. Not verbindet, Reichtum trennt viel mehr.

Wenn wir heute Slawomira Walczeska auszeichnen, dann weil sie Brücken baut: feministische, kulturelle und politische zwischen Polen und Deutschen und zwischen den Generationen, weil sie Grenzen überwindet und Beziehungen in neuer Qualität herstellt.

Ich wünsche mir viele solcher Vorbilder, und dass die Stiftung künftig viel mehr dazu beitragen kann als sie es zurzeit vermag.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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